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Biogemüse im Twinlight-Haus

Ein Artikel von Peter Springer | 07.01.2015 - 00:05

Hinter dem Projekt in Wöhrden stehen die Bauherrn Rainer Carstens und Paul-Heinrich Dörscher. Für sie ist der Begriff „Bio“ kein Fremdwort.
Das Konzept ist sicherlich einzigartig, allein schon durch seine Symbiose aus modernster Technik und dem Anspruch, den natürlichen Stoffkreisläufen Priorität einzuräumen.

Als Rainer Carstens 1978 den landwirtschaftlichen Hof seiner Eltern übernahm, stellte er ihn bereits zehn Jahre später auf die Richtlinien des Bioland-Verbandes um. Wie sein Nachbar Paul-Heinrich Dörscher, der seit 2000 seine Produkte nach Bioland-Richtlinien anbaut.

12 Mio. Euro für Tomaten

Wenn zwei das Gleiche tun, warum dann nicht gemeinsam, sagten sich die innovativen Unternehmer und gründeten 2002 die Dörscher & Carstens Bio GbR mit einer Anbaufläche von derzeit rund 700 ha.
Diese befinden sich auf fruchtbarem Marschboden im Kreis Dithmarschen, einem der größten zusammenhängenden Anbauflächen für Biogemüse in Europa.

Das Dithmarscher Anbaugebiet ist vor allem für seine Kohlarten bekannt. „Hier wächst Kohl auch dann noch zu guten Qualitäten heran“, erzählt Rainer Carstens, „wenn die Bedingungen nicht optimal sind.“ Daneben produzieren die beiden Landwirte noch diverse andere Gemüsearten sowie Kartoffeln, Getreide und Kleegras.

Schon immer hat es den Gemüseproduzenten ein wenig geärgert, dass keine Tomaten mit dabei sind, obwohl diese zum Lieblings-Frischgemüse der Deutschen zählen. Ärgerlich auch, dass Tomaten vorwiegend aus dem Ausland stammen, Carstens Meinung nach nicht sonderlich gut schmecken und meistens konventionell angebaut werden.
So entstand die Idee der eigenen Tomatenproduktion, die nun mit einer Investition von rund 12 Mio. Euro in die Tat umgesetzt wurde. Für diese neue Sparte innerhalb der von Rainer Carstens und Paul-Heinrich Dörscher geleiteten Westhof Bio-Unternehmensgruppe wurde eigens die Westhof Bio-Gewächshaus GmbH & Co. KG gegründet.

Modernste Technik trifft konventinellen Anbau

Nun ist der Anbau von Tomaten – auch unter Glas – sicherlich nichts Außergewöhnliches. Holländische Gärtner haben das inzwischen bis zur Schmerzgrenze perfektioniert. Mit dem Projekt in Wöhrden gingen Carstens & Dörscher aber völlig neue Wege.

Sie verwenden zwar modernste Gewächshaustechnik, kombinieren diese aber mit einer konventionellen Anbaumethode. Das heißt: Kultur direkt im fruchtbaren Marschboden – keine Substrate, keine Rinnen, kein Zusatzlicht. Der Boden und der Erhalt seiner Fruchtbarkeit hat hier oberste Priorität.

Gepflanzt werden Tomaten als Veredelung, um bodenbürtigen Krankheiten vorzubeugen. Gedüngt wird nach den Bioland-Vorgaben organisch, und für die Unkrautbeseitigung stehen nur mechanische Verfahren zur Verfügung.
Die Heizrohre liegen kurz über dem Boden im Pflanzenbestand und lassen sich über Seilzüge anheben, um die Bodenbearbeitung vornehmen zu können.

Biologisches Gleichgewicht

Da laut Bioland-Vorgaben so gut wie keine Pflanzenschutzmittel zugelassen sind, ist im Haus strengste Hygiene angesagt. Die beiden Landwirte hoffen aber, dass sich wie im Freiland auch im Haus aufgrund der natürlichen Kulturweise im offenen Boden ein biologisches Gleichgewicht einstellt, so dass sich Krankheiten und Schädlinge aufgrund der natürlichen Gegenspieler nicht so stark ausbreiten. Das wird noch durch den Einsatz von Nützlingen unterstützt.

Carstens & Dörscher setzen auf eine kontinuierliche Tomatenernte von Mitte März bis etwa Mitte November. Erfahrungen mit anderen Gemüsearten zeigen, dass die Kultur im Boden eine besondere geschmackliche Qualität hervorbringt.
Mit dem Bau des rund 4 ha großen Gewächshauses wurde die niederländische P.L.J. Bom Groep beauftragt. Dabei stellte sich den Monteuren eine besondere Aufgabe, denn der Boden musste so schonend wie möglich behandelt werden, um eventuelle Verdichtungen auszuschließen.

„Twinlight“-Konstruktion mit Gitterträgern

Für ihren neuen Gewächshausbau entschieden sich Carstens & Dörscher für das Twinlight-Haus von Bom. Das Revolutionäre daran ist neben der Höhe von mehr als 7 m (Rinne 7,30 m, First 8,30 m) aber die Form der statisch relevanten Bauteile.
Stützen und Querbinder übernehmen in den Gewächshäusern wesentliche tragende Funktionen. Meistens werden hierfür massive Stahlträger verwendet. Im Hochbau hat man allerdings schon längst festgestellt, dass Gitterstrukturen die gleiche statische Aufgabe erfüllen, aber erheblich an Material und damit an Kosten einsparen.

Bom hat diese Idee für den Gartenbau umgesetzt und daraus das „Twinlight“-System entwickelt. Es handelt sich dabei um zwei rechteckige Stahlrohre in den Abmessungen 30 x 60 mm, die durch Fachwerkstützen miteinander verbunden werden.
Von Vorteil ist dabei nicht nur die Einsparung an Material. Durch die Gitterstruktur entsteht zudem ein geringerer Schattenwurf, was den Lichtgewinn eines solchen Hauses nochmals erhöht.

Nur 5 cm schmale Schirmpakete

Die „Twinlight“-Stützen laufen nach unten schmal zu (unten 14 cm, ab 2 m Höhe 30 cm), um durch möglichst kleine Punktfundamente wenig wertvolle Kulturfläche zu beanspruchen. Mit ihrer Breite von 60 mm sind die Stützen dem Maß der 12,80 m überbrückenden, querlaufenden Gitterbinder angepasst.
Das ermöglicht dem Klimaschirm den lückenlosen Anschluss an die Profile, denn auch dabei handelt es sich um eine neue Konstruktion.

Die Schirmanlage ist mit dem „Smartslip“-System ausgestattet. Es sorgt dafür, dass die einzelnen Schirmsegmente mit einer einstellbaren und geregelten Kraft an die Gitterbinder gedrückt werden. Schirmpakete von nur 5 cm sind so möglich. Das vermindert den Schattenwurf und sorgt für zusätzlichen Lichteinfall in das Gewächshaus.

Die neue „Twinlight“-Konstruktion besitzt aber nicht nur Vorteile aufgrund ihres geringen Schattenwurfs. Neben der Materialeinsparung an Stahl reduziert sich auch die Fläche für die Verzinkung und Pulverbeschichtung.

Im neuen Projekt in Wöhrden sind alle Gitterträger weiß pulverbeschichtet, um das Licht auch im Pflanzenbestand optimal auszunutzen. Einsparungen machen sich hier allein schon aufgrund der großen Fläche in den Kosten bemerkbar.

Maximaler Lichteinfall

Um den Lichteinfall in das Haus weiter zu steigern, sind auch die Rinnen auf ein Minimum reduziert worden. Aus der ehemals 17 cm breiten und begehbaren Stahlrinne hat sich die Technik nun hin zu einer 10 cm breiten Rinne aus Aluminium entwickelt.
Diese hat im Wesentlichen nur noch statische Aufgaben. Die ursprüngliche Aufgabe, Wasser zu sammeln und abzuführen, übernimmt nun das Glas. Und begehbar muss die Rinne auch nicht mehr sein, seitdem automatische Waschgeräte für Sauberkeit auf dem Dach sorgen.

Prima Klima

Rainer Carstens und Paul-Heinrich Dörscher entschieden sich auch deshalb für die „Twinlight“-Konstruktion, weil sie ein Optimum an Licht und Luft garantiert.
Wöhrden liegt schon ziemlich weit im Norden und ist als Standort für den Anbau von Tomaten eigentlich nicht optimal. Deshalb muss mit der Gewächshauskonstruktion jedes Prozent an Licht ausgenutzt werden.

Daher wurden rahmenlose Lüftungsklappen verwendet. Sie werden über Schubstangen angesteuert, die exakt über den Gitterbindern laufen, und damit keinen zusätzlichen Schattenwurf verursachen. Zwei dünne Streben, die direkt mit der Scheibe über Bohrlöcher im Glas verbunden sind, geben die Kräfte an die Lüftungsklappe weiter.

Da die Lüftungsscheiben besonderen Kräften ausgesetzt sind, bestehen sie aus 5 mm starkem und gehärtetem Sicherheitsglas. Die Lüftungskonstruktion besitzt auch den Vorteil der einfachen und automatischen Reinigung mit Dachwaschgeräten, denn sie schließt fast bündig mit der Dachkonstruktion ab.

Spezialglas für mehr Ertrag

Um den Lichtdurchgang zu optimieren, wurden nur in die Stehwände Stegdoppelplatten eingebaut. Die Dachhülle erhielt kein isolierendes Material, vom doppelten Klimaschirm einmal abgesehen. Dafür aber ein besonderes Glas mit der Bezeichnung „Diffulite Plus“.

Es ist ein gehärtetes Soft Diffus Low Iron Glas 92+ mit einer Antireflex-Beschichtung. Es besitzt eine Durchlässigkeit bei direktem Licht von knapp über 96 %, bei hemisphärischem Licht von 88,5 % und einen Haze-Faktor (Maß der Lichtstreuung) von 15 %. Das Maß einer Scheibe beträgt 167x212 mm, bei 4,2 mm Dicke.

Neueste Praxisuntersuchungen der Universität Wageningen (WUR) und Untersuchungen in den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass durch die Verwendung von diffusem Glas eine höhere Produktion erzielt werden kann.
Es sind vor allem die Fruchtgewächse, wie z. B. Tomaten und Gurken, die durch ihre vertikale Wuchsform davon profitieren.
Durch die bessere Streuung des natürlichen Lichts dringt das Licht tiefer in den Pflanzenbestand ein und steigert somit Photosynthese und Produktion um bis zu 10 %.

Das „Diffulite“-Glas stammt aus der Solarindustrie, wird in Asien hergestellt und ist von Bom in Zusammenarbeit mit der niederländischen HT Glass B.V. entwickelt worden.

Multitalent Antireflex-Beschichtung

Die für die Lichtstreuung verantwortliche Struktur wird bereits im Walzvorgang in die Glasoberfläche eingearbeitet. Zusätzlich besitzt das Glas eine Antireflex-Beschichtung. Dadurch lassen sich die Transmissionseigenschaften deutlich erhöhen. Das nicht nur bei senkrechtem Lichteinfall, sondern auch bei schräg einfallendem und diffusem Licht.

Die Antireflexbeschichtung besitzt darüber hinaus hydrophile Oberflächeneigenschaften, die zu einem zusätzlichen Selbstreinigungseffekt führen. Es bilden sich auch keine Kondensationstropfen auf der Glasinnenseite, sondern ein gleichmäßiger Wasserfilm.
Das erhöht um ein weiteres die Durchlässigkeit für Licht. Die Beschichtung wird chemisch auf das Glas aufgebracht und dauerhaft fest eingebrannt.

Ziel: Energieneutralität mit geschlossenem Kreislauf

Die Unternehmensinhaber streben für ihren Firmenverbund ein CO2-neutrales Rundum-Energiekonzept an. Ihr Slogan: „Gemüse – Nährstoffe – Energie“. Mit der Einbindung aller Abteilungen wollen sie einen symbiotischen Energie- und Nährstoffkreislauf aufbauen, der mit der Produktion und Vermarktung regenerativer Energien von ihren Flächen eine Energieneutralität der gesamten Unternehmensgruppe anstrebt.

Jede Kilowattstunde, die von Kulturbeginn bis zur Auslieferung der Ware an den Handel verbraucht wird, soll zukünftig regenerativ erzeugt werden. Ausgang hierfür ist die Landwirtschaft und der Gemüsebau.
Mit dem Anbau von Kleegras, mit Ernterückständen und aussortiertem Gemüse wird eine Biogasanlage plus Blockheizkraftwerk (BHKW) mit einer Leistung von 549 kWel (elektrische Leistung) und 652 kWth (thermische Leistung) betrieben.
Betont wird, dass mit dieser Anlage keine Konkurrenz zum Anbau von Nahrungsmitteln auftritt.

Hauseigene Biogasanlage

Eine weitere Anlage dieser Art steht direkt neben dem neuen Gewächshaus in Wöhrden mit einer Leistung von 1500 kWel und 2000 kWth. Dieses ist hauptsächlich für die Versorgung des Gewächshauses mit Wärme und Kohlendioxid (nach entsprechender Reinigung) zuständig. Die kleinere Anlage übernimmt zudem die Energieversorgung für die firmeneigene Frosterei sowie den Wärmebedarf für das Blanchieren des Gemüses.

Auch die Abwärme aus der Frosterei wird genutzt und heizt Gebäude und Gewächshaus. Die Gärreste aus den Biogasanlagen werden als Dünger im Freiland und bei den Tomaten genutzt.
Mit einem Anteil von rund 4 % Stickstoff ist auch hier ein geschlossener Kreislauf möglich, der den Bedarf an Stickstoff nur über die Fruchtfolge mit Kleegras und den Gärresten abdeckt.

Der Energiebedarf des neuen Hauses wird im Mittel auf rund 3000 kWth jährlich geschätzt. Im Winter, konkret von Mitte November bis Mitte März wird die Tomatenproduktion eingestellt und das Haus bei etwa 8 °C frostfrei gehalten. Das hat energietechnische und auch marktwirtschaftliche Gründe.
Die Produktion von Tomaten in der Region wäre im Winter nur mit einem erheblichen Energieaufwand für Wärme und Zusatzlicht möglich, und der dann entsprechend hohe Preis am Markt kaum durchsetzbar.

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